(Gypaetus barbatus)
Der Bartgeier ist mit einer Spannweite von über 2,6 Metern der grösste Vogel der Alpen. Um ihn hielten sich in der Vergangenheit zahlreiche Märchen, wovon auch alte Trivialnamen wie «Rossgyr», «Gemsengeier» oder «Lämmergeier» zeugen. In der Schweiz wurde er bis zum Ende des 19. Jahrhunderts aus Konkurrenzüberlegungen und Unkenntnis sowie dank Abschussprämien gezielt dezimiert und schliesslich ausgerottet. 1986 wurde mit einem internationalen Programm zur Wiederansiedlung in den Alpen begonnen.
https://www.vogelwarte.ch/de/voegel/voegel-der-schweiz/bartgeier
Text kopiert aus: https://www.bartgeier.ch/bartgeier/biologie
Der Bartgeier – ein aussergewöhnlicher Greifvogel
Als einzige Geierart hat sich der Bartgeier auf die Verwertung von Knochen verendeter Tiere spezialisiert. Diese spezielle Ernährungsweise erfordert viele Anpassungen und daher unterscheidet sich der Bartgeier in vielen Aspekten von anderen Geierarten.
Ein untypischer Geier mit prächtigem Kopfgefieder
Geier sind Verwerter von Aas und sorgen dafür, dass Kadaver schnell aus der Landschaft verschwinden. Damit tragen sie dazu bei, dass sich Krankheiten weniger ausbreiten können. Als Anpassung an diese Ernährungsweise sind viele Geierarten an Hals und Kopf nur spärlich befiedert. Dies hat den Vorteil, dass die Federn nicht verkleben, wenn die frischen Kadaver noch blutig sind. Beim Bartgeier hingegen ist das Kopfgefieder sehr ausgeprägt, denn seine Nahrung besteht vornehmlich aus Knochen von toten Huftieren. Somit besteht keine Gefahr, dass ihr Kopfgefieder bei der Nahrungsaufnahme schmutzig wird.
Knochenfressen – Tricks und Kniffs der Bartgeier
Knochen sind eine spezielle Nahrungsquelle. Sie enthalten neben Kalk viele nahrhafte Fette und Eiweisse, sind aber auch sehr hart und schwer verdaulich. So gibt es nicht viele Arten, die Knochen effizient verdauen können. Der Bartgeier hingegen erreicht dies mit Hilfe verschiedener Anpassungen. Seine Magensäfte sind extrem sauer, so dass sich der Knochenkalk gut auflöst. Ausserdem hat er eine besonders grosse Schnabelöffnung und seine Luftröhre reicht fast bis zur Schnabelspitze. So kriegt er auch ausreichend Luft, wenn einmal ein Knochen im Rachen feststeckt.
Besonders faszinierend ist sein Umgang mit Knochenstücken, die zu gross zum Schlucken sind. Der Bartgeier fliegt damit zu Geröllhalden, wo er die Knochen immer wieder aus grosser Höhe fallen lässt, bis diese in schnabelgerechte Splitter zerspringen. Obwohl dies eine angeborene Fähigkeit ist, muss sie im Verlaufe des Erwachsenwerdens fleissig geübt und verbessert werden.
Ein Geier mit Bart
Der Bartgeier hat viele Namen. In diversen Sprachen bezieht sich sein Name auf seine Ernährungsweise. So heisst er beispielsweise in Tirol „Boanbrüchl“ und in Spanien „Quebrantahuesos“, was soviel wie Knochenbrecher bedeutet. Im Englischen wird oft noch der Begriff „Lammergeyer“ verwendet. Auch im deutschsprachigen Raum war „Lämmergeier“ lange ein gebräuchlicher Name, weil man fälschlicherweise davon ausging , dass Bartgeier Lämmer erbeuten. Dank Aufklärungsarbeit hat man dieses Missverständnis ausgeräumt und heute hat sich der Name Bartgeier durchgesetzt. Der Name bezieht sich auf den dunklen, borstenartigen Bart, der für diese Geierart charakteristisch ist und den Kopf sowohl von Männchen als auch von Weibchen ziert. Wozu der Bart dient, ist nicht geklärt. Möglicherweise hilft er dem Bartgeier als Tastorgan, wenn er die Sehnen sperriger Gelenke auftrennt.
Ausdauernder Segler offener Gebirgslandschaften
Geier müssen für die Nahrungssuche oft grosse Distanzen zurücklegen und sind dank der grossen Flügelspannweite sehr ausdauernde Segler. Mit einer Spannweite von rund 2.6-2.9 Metern und 5-7 Kilo Gewicht ist der Bartgeier die grösste Brutvogelart der Alpen. Bartgeier bevorzugen offene, gebirgige Landschaften. Hier nutzen sie für die Nahrungssuche die Aufwinde, welche entlang der Gebirgshänge entstehen, und die Suche nach Überresten verendeter Tiere erleichtern. Weil Bartgeier für die Nahrungssuche auf ihren Sehsinn setzen, fliegen sie oft in geringer Flughöhe. Dadurch kommt es immer wieder zu überraschenden Begegnung zwischen Menschen und diesen grossartigen Seglern.
Wenig Nachkommen – lange Lebensdauer
Bartgeier werden mit 5 bis 7 Jahren geschlechtsreif. Eine erfolgreiche Jungenaufzucht gelingt aber meist erst ab einem Alter von 8 bis 9 Jahren und dies oft nur jedes zweite oder dritte Jahr. Dabei kann ein Brutpaar in einer Brutsaison maximal einen Jungvogel grossziehen. Bartgeier pflanzen sich also sehr langsam fort. Damit eine Bartgeierpopulation sich aufbauen und überleben kann, ist es daher sehr wichtig, dass Bartgeier lange leben und sich wiederholt fortpflanzen können. Entsprechend können Bartgeier ein hohes Alter erreichen. In Zoos werden Bartgeier regelmässig 40 bis 50 Jahre alt, und auch in freier Wildbahn sind über 30-jährige Bartgeier wohl keine Seltenheit. Verschiedene Gefahren, auch durch den Menschen verursachte, können jedoch schnell die Sterblichkeit erhöhen und daher fatale Auswirkungen auf das weitere Überleben der Bartgeier haben. Bartgeier können deshalb nur dort langfristig überleben, wo sie gut geschützt sind.
Obwohl Bartgeier nur ein Jungtier pro Jahr aufziehen können, legen sie meist zwei Eier. Die beiden Eier werden im Abstand von rund einer Woche gelegt, was zur Folge hat, dass die zwei Jungvögel zu verschiedenen Zeitpunkten schlüpfen und unterschiedlich gross sind. Junge Bartgeier sind sehr aggressiv und die Konkurrenzsituation im Nest führt dazu, dass das stärkere Küken das schwächere in den ersten Lebenstagen drangsaliert und vom Fressen abdrängt bis dieses stirbt.
In Anlehnung an die Geschichte des Brudermordes von Kain an Abel im Alten Testament, wird dieser Mechanismus "Kainismus" genannt. Der biologische Grund liegt darin, dass für die Elterntiere die Futtersuche sehr aufwändig ist und die Nahrung nur für ein Junges reicht. Das zweite Ei bildet die biologische Reserve, für den Fall, dass das erste Ei nicht befruchtet ist, der Embryo im Ei abstirbt oder das ältere Küken die ersten Tage nicht überlebt.
Brutzeit mitten im Winter
In den Alpen beginnen die Bartgeier zwischen Ende Dezember und Ende Februar mit der Brut. Dieser etwas spezielle Zeitpunkt steht im Zusammenhang mit der Ernährung der Küken. Sie können noch keine Knochen verdauen und sind in den ersten Lebenswochen auf frisches Muskelfleisch angewiesen. Die Brutzeit dauert bei Bartgeiern rund 55 Tage. Somit schlüpfen die Küken gegen Ende des Winters, wenn es ausreichend Kadaver von Tieren hat, welche die strenge Zeit nicht überlebt haben, und die Bartgeiereltern ihre Jungen mit Frischfleisch versorgen können.
Leuchtende Augen, gefärbte Brust: Bartgeier mögen es rot
Bartgeier sind bemerkenswert schön gefärbt. So scheinen die Augen leuchtend rot auf, wenn etwas die Neugier der Bartgeier weckt oder sie aufgeregt sind. Im Jugendalter weist ihr Gefieder eine noch vorwiegend dunkelbraune Farbe auf. Ab einem Alter von vier Jahren färben sich das Kopf-, Brust- und Bauchgefieder zunehmend weiss. Im Zuge dieser Veränderung gewinnt ein interessantes Verhalten der Bartgeier an Bedeutung: Beide Geschlechter suchen gezielt Wasserstellen auf, welche Eisenoxid-haltige Sedimente enthalten. Durch das ausgiebige Baden in solchen Pfützen färbt sich vor allem das Brustgefieder leuchtend orange-rot. Ob dieses Verhalten dazu dient, sich zu schmücken oder ob die Eisenoxide helfen, bei der Brut das Ei vor Infektionen zu schützen, ist nicht geklärt. Vielleicht treffen auch beide Erklärungen zu oder es gibt noch weitere, uns unbekannte Gründe.
Der Bartgeier und seine Verwandtschaft
Weltweit gibt es 23 Geierarten. Dabei wird zwischen Neuwelt- und Altweltgeiern unterschieden. Erstere bevölkern die amerikanischen Kontinente, letztere Eurasien und Afrika. Die sieben Neuweltgeierarten sind näher mit Störchen verwandt als mit Altweltgeiern und haben sich im Verlauf der Evolution unabhängig von unseren Geierarten ebenfalls zu Aasfressern entwickelt. Von den 16 Geierarten Eurasiens und Afrikas leben 4 Arten in Europa, für deren Schutz sich die Vulture Conservation Foundation einsetzt.
Der häufigste europäische Geier ist der Gänsegeier, welcher vor allem in Spanien und Südfrankreich zu beobachten ist. Junge Gänsegeier tauchen auch regelmässig als Sommergäste in den Schweizer Alpen auf. Der Mönchsgeier ist mit 7 bis 12 kg der grösste Geier in Europa. Weiter gibt es noch den sehr seltenen Schmutzgeier, der unter anderem kleine Kadaver, Kot und sogar Strausseneier frisst, welche er mit Steinen aufknacken kann. Vermutlich haben sich Schmutz- und Bartgeier schon früh in der Entwicklungsgeschichte von den übrigen Altweltgeiern abgespalten.
Bartgeier haben ein grosses Verbreitungsgebiet. Ursprünglich waren sie in fast allen Gebirgen Eurasiens und Afrikas heimisch (s. Karte unten). Auch heute leben noch starke Bestände im Himalaya und in Zentralasien. In den Gebirgen Ost- und Südafrikas lebt gar eine eigene Unterart. Weltweit nehmen Geierbestände aber in vielen Regionen dramatisch ab. Dies gilt auch für den Bartgeier. Besonders im Mittelmeerraum sind Bartgeier stark gefährdet. Dem Bartgeier-Wiederansiedlungsprojekt in den Alpen kommt daher eine sehr hohe Bedeutung zu.
Wer die Bartgeier unterstützen möchte, findet hier genaueres dazu: https://4vultures.org/